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DiehlCUBE recommends: DER KUNSTBETRACHTER ALS DOMPTEUR, Hans-Dieter Franz über die Ausstellung “SPIELOBJEKTE” im Museum Tinguely

Hans-Dieter Fronz, Südkurier:

 

In der Ausstellung „Raw Materials. Vom Baumarkt ins Museum“ der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen ist zurzeit (bis 30. März) eine Rauminstallation von Stefan Löffelhardt zu sehen. Mit einfachsten Mitteln – einem Stück Malerabdeckfolie – hat der Künstler eine Art poetischen Bodennebel geschaffen. Für hundert Euro kann jeder Besucher an der Museumskasse ein Zertifikat erwerben, in dem ihm der Künstler Schwarz auf Weiß die Genehmigung erteilt, im Baumarkt derartige Folie zu kaufen und seine Installation zu Hause zu reproduzieren. Kunst als Gesellschaftsspiel, der für gewöhnlich passive Rezipient als aktiver Mitspieler.

Gab es das nicht schon einmal? In den 1950er-Jahren war eine Kunstströmung entstanden, die den Kunstbetrachter in den Entstehungsprozess des Werks einzubeziehen suchte. Die so entstandenen Kunstwerke waren für Veränderungen offen, die der Betrachter selbst vornehmen konnte und sollte. Für Berto Lardera etwa war das Kunstwerk ein „lebendiges Wesen, das auf den Umgang mit Menschen und gelegentlich die aktive Beteiligung der Betrachter angewiesen ist“. Karl Gerstner sah den Künstler in der Rolle des „Moderators“ und „Spielmachers“, der nicht selber spielt, sondern den Ausstellungsbesucher spielen lässt.

Für Kunstwerke dieser Art hat sich mittlerweile die Bezeichnung ‚Spielobjekt’ eingebürgert. Ihre größten Erfolge feierte die Strömung Ende der Sechzigerjahre; schwindende Anerkennung war mitursächlich am Niedergang ein Jahrzehnt später. Auffällig ist die zeitliche Parallele zur Do-it-yourself-Bewegung, die sich in den Fünfzigerjahren von England ausgehend rund um den Globus ausbreitete. Man muss, um das Entstehen der Kunstform zu erklären, also vielleicht gar nicht unbedingt ins Philosophische ausschweifen und anthropologische Grundgegebenheiten oder Schillers Spieltheorie bemühen wie der Katalog zur Ausstellung „Spielobjekte. Die Kunst der Möglichkeiten“ im Basler Tinguely Museum.

Nicht zufällig findet die große Überblicksausstellung zum Thema im Tinguely Museum ihren Ort. Mit einigen seiner Kunst produzierenden Maschinen war Jean Tinguely selbst Teil der Strömung, der Rezipient bei ihm allerdings eher eine Art Handlanger, der der Maschine das Material zuführte und sie in Gang setzte wie im Falle der Ballmaschine „Rotozaza No. 1“, die jetzt das Entree zu der Schau bildet.

Mit über 100 Werken von rund 50 Künstlern vermittelt die Schau einen Eindruck vom Facettenreichtum der Strömung. Wie stets, so gab es auch hier Vorläufer – einige frühe, noch in den 1940er-Jahren entstandene Spielobjekte von Gyula Kosice, William Turnball und Le Corbusier in der Schau sind der Beleg. Zu den Pionieren der Strömung zählen auch der Venezolaner Carlos Cruz-Diez und der Israeli Jaacov Agam, dessen bewegliches Relief „Ambiance“ von 1955 aus einer schwarzen Holzwand mit 21 veränderlichen farbigen Elementen eine der Arbeiten ist, denen man im Unterschied zu manchem anderen Exponat ohne Zögern Kunstcharakter attestiert.

Ebenso wie Dieter Roths „Gummibandbild“, bei dem auf einem Raster aus Nägeln mit Gummibändern veränderliche Figuren erzeugt werden können. Zu den originelleren Schöpfungen zählen auch Werke der italienischen Gruppo T – die schön anarchischen Bilder von Grazia Varisco beispielsweise. Bei Dieter Hacker wird der interaktive Betrachter zum Dompteur, der schwer fixierbare Ellipsoide bändigen muss. In seinem „Essbild“ kann er auf einem gerasterten Feld Schokolinsen setzen – oder sie sich einverleiben, „Tabula rasa“ ist auch kein schlechter Bildtitel.

Viele Protagonisten der Strömung setzten in ihre egalitäre, die herkömmliche Hierarchie zwischen Künstler und Rezipient aufhebende Kunst Hoffnungen auf eine politische Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf mehr Demokratie – und mussten am Ende ihr Scheitern eingestehen. Auch die Hoffnung, beim Publikum Kreativität zu fördern, erwies sich als Wunschdenken. Doch ist das letzte Wort über die in ihren Zielen ehrbare, in ihrem Kunstverständnis sympathische Strömung vielleicht noch nicht gesprochen. Auch heute noch entstehen Spielobjekte und ihnen vergleichbare Kunstwerke. So ist der Besucher in Basel in der interaktiven Installation „The obliteration room“ der Japanerin Yayoi Kusama eingeladen, einem ursprünglich weißen Wohnraum mit bunten Punkten Farbe zu verleihen. Freilich: Jede persönliche Setzung geht hier am Ende hoffnungslos unter im raumgreifenden Kunterbunt des Resultats.

Quelle:

www.suedkurier.de/nachrichten/kultur/themensk/Der-Kunstbetrachter-als-Dompteur;art410935,6784128

Tinguely Museum, Paul-Sacher-Anlage 1, Basel. Bis 11. Mai, Di bis So 11-18 Uhr. Im Netz:

www.tinguely.ch